Freitag, 25. Mai 2007

Menschenrechte in China - Die coole Oberfläche täuscht

Von Mark Siemons, Peking

25. Mai 2007

Bundespräsident Köhler reist in nervöserer Atmosphäre durch China als die letzten deutschen Staatsbesucher. Mit einigen Nadelstichen ist es Deutschland in den letzten Wochen gelungen, das Thema Menschenrechte wieder scharfzumachen, von dem man schon glauben konnte, dass es in den üblichen diplomatischen Routinen restlos untergegangen sei. Eine Resolution des Bundestags hatte Chinas Arbeitslager kritisiert; den europäisch-chinesischen Menschenrechtsdialog in Berlin hatten Pekinger Diplomaten vorzeitig verlassen, weil auch Hongkonger Nichtregierungsorganisationen teilnahmen, die als „staatsfeindlich“ klassifiziert wurden. Nun wägt Köhler seine Worte vorsichtiger denn je.

Zuvor konnte man den Eindruck haben, der allzu abstrakte Begriff sei erfolgreich neutralisiert: Mit der gleichen Geläufigkeit, mit der die „Menschenrechtssituation“ von westlichen Politikern angesprochen wurde, wurde sie von ihren chinesischen Kollegen höflich zurückgewiesen (innere Angelegenheiten) oder freundlich delegiert (es läuft ja schon der einschlägige Dialog).

Philosophie statt Machtabgabe

Aber die coole Oberfläche täuscht, auch in diplomatisch ruhigen Zeiten fühlt sich China durch den universalistischen Anspruch erheblich herausgefordert, der verhindert, dass konkrete Kritik ohne Weiteres als bloße Einmischung abgetan werden kann. Zahllose Forscher und Forschungsstellen, auch eine „Chinesische Gesellschaft für Menschenrechtsstudien“, beschäftigen sich seit Jahren mit dem Thema, um der „westlichen Diskurshegemonie“ etwas Eigenes entgegenzusetzen. Die offizielle, immer wieder neu variierte Position ist, dass Chinas traditionelle Kultur eine eigene Sicht der Menschenrechte entwickelt habe, die eher von der Harmonie der Gemeinschaft als von „Individualismus und Egoismus“ ausgehe. Deshalb nennt das regierungsamtliche Weißbuch Demokratie „das Recht des Volkes auf Existenz und Entwicklung“ als das „vorrangige“ Menschenrecht, um das der Staat sich zu kümmern habe.

Es ist offenkundig, dass da eine Regierung philosophiert, die Gründe dafür sucht, weshalb sie keine Macht abgeben soll. Und auch ernstgemeinte Argumente können von einem Staat, dem sie ins Konzept passen, natürlich jederzeit instrumentalisiert werden. Gleichwohl tut ein Denken, dem der universalistische Charakter der Menschenrechte ernst ist, gut daran, sich auf die unterschiedlichen historischen und kulturellen Erfahrungen argumentativ einzulassen, die in diesen Debattenbeiträgen zum Ausdruck kommen können (wobei man mit der Benennung von Unrecht nicht warten muss, bis die Diskussion abgeschlossen ist).

Die „De-facto-Religion des Westens“

In der Zeitschrift, die die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften herausgibt, ist gerade jetzt ein Aufsatz erschienen, der radikaler ist als die übliche kulturalistische Argumentation. Der an der Akademie arbeitende Philosoph Zhao Tingyang bezeichnet die ständigen Verweise auf Menschenrechte da als die neue „De-facto-Religion des Westens“ (bei anderer Gelegenheit hatte er den westlichen Universalismus einen „verborgenen Fundamentalismus“ genannt), und die defensiven Reaktionen offizieller Kreise hält er für philosophisch bedeutungslos, nichts anderes als das heimliche Eingeständnis, dass die westliche Sichtweise richtig sei.

Doch wie der Westen aus einem rein biologischen Umstand - demjenigen, Mensch zu sein - ein „Recht“ ableite, lasse sich nicht rechtfertigen; die Natur habe noch nie ein Recht begründet, das könne erst die Moral. In Wirklichkeit mache den Menschen nicht das, was er „ist“, sondern was er „tut“, zum Subjekt von Rechten. Aus spieltheoretischen Erwägungen leitet Zhao nun ab, dass sich die menschlichen Interessen am besten in einem System der „symmetrischen Gerechtigkeit“ befriedigen lassen, in dem Menschenrechte nicht als „natürliche Rechte“, aufgrund des Seins, sondern als „Rechte auf Kredit“, aufgrund des Handelns, gewährt werden: „Alle menschlichen Rechte, einschließlich derjenigen auf Leben und Freiheit, sind etwas, was zurückgezahlt werden muss.“ Sie sollen nur bei Wohlverhalten gelten.

Die paradoxe Pointe der Menschenrecht

Der blinde Fleck dieser aus dem Handeln und den Beziehungen gewonnenen Position ist offensichtlich: Sie nimmt die Gesellschaft, von der die Rechte abhängen sollen, als etwas Naturwüchsiges, ohne die Frage, wer denn da nun nach welchen Kategorien die Rechte gewährt oder entzieht, in den Mittelpunkt zu stellen. Zhao gesteht immerhin selbst ein, dass es für die Gerechtigkeit in diesem System kein objektives Kriterium gibt. Eben der staatlichen Willkür, die die Menschenrechte begrenzen sollen, würden da Tür und Tor geöffnet.

Aufschlussreich aber ist, dass Zhao genau das unplausibel an den Menschenrechten findet, was ihre ursprünglich naturrechtliche oder christliche Herleitung betrifft. In der praktischen Politik sind diese Ursprünge längst eingeklammert, doch in der Konfrontation mit einer ganz anderen Geistesgeschichte treten sie nun wieder als etwas Fremdes hervor. Doch die paradoxe Pointe der Menschenrechte hängt nicht davon ab. Ihr Postulat verlangt dem Staat ab, eine Grenze seiner eigenen Wirksamkeit bedingungslos zu schützen. Um den Sinn einer solchen Grenzziehung einzusehen, bedarf es keiner bestimmten Metaphysik, sondern nur der historischen Erfahrung, dass Staaten zu Übergriffen auf Menschen fähig sind. Und von dieser Erfahrung hatte China genug.

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